11. September 2023
Daseinsvorsorge auf der Kippe: Ohne Ausgleich für Inflation und Tarifkosten droht vielen Krankenhäusern im Jahr 2024 das Aus – Protestkundgebung am 20.09.2023
KGNW-Präsident Ingo Morell: Die Bundesregierung muss ihre Verantwortung übernehmen
Düsseldorf, 11.09.2023 – Die Krankenhäuser müssen für 2024 mit empfindlichen Defiziten planen, die viele in eine wirtschaftliche Schieflage bis hin zur konkreten Insolvenzgefahr bringen. Der Grund: Die Bundesregierung gewährt den Krankenhäusern bisher weder eine ausreichende Kompensation für die inflationsbedingten Kostensteigerungen, noch sorgt sie dafür, dass die für das Jahr 2024 von ihr verabredete Tarifsteigerung von rund zehn Prozent gegenfinanziert wird. Die Folge: Die Krankenhäuser müssen für das kommende Jahr hohe Verluste – teils im zweistelligen Millionenbereich – einplanen. „Alle Klinik-Geschäftsleitungen stehen vor einer schwierigen Entscheidung: Sie wollen den Beschäftigten die verdiente Tariferhöhung zahlen. Denn damit werden die Wertigkeit ihrer Arbeit und ebenso die Attraktivität der Krankenhäuser als Arbeitgeber unterstrichen. Aber weil den Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern das Geld dazu fehlt, bringen sie ihr Krankenhaus und damit viele, viele Arbeitsplätze in Gefahr“, beschreibt Ingo Morell, Präsident der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen (KGNW), einen sich aufbauenden Konflikt. „Diese Gefahr ist absolut real und konkret nachweisbar. Der Bundesgesundheitsminister hat es in der Hand, einen gefährlichen Abwärtsstrudel für die Daseinsvorsorge zu verhindern. Der Bundesgesundheitsminister bestreitet auch die wirtschaftliche Notlage überhaupt nicht. Dass er sich bisher weigert gegenzusteuern, ist rational nicht nachzuvollziehen. Dabei darf es nicht bleiben.“
Mit einer großen Kundgebung vor dem Düsseldorfer Landtag wollen die Beschäftigten der NRW-Kliniken auf die Notlage der Krankenhäuser aufmerksam machen. Unter dem Motto „Die beste Medizin: saubere Finanzierung“ fordern sie am 20. September 2023 ab 11.55 Uhr den Bundesgesundheitsminister zum Umdenken auf. KGNW-Präsident Morell betont: „Der Ärger und die Anspannung in den Krankenhäusern sind groß. Wir fordern von der Bundesregierung eine nachhaltige Absicherung der Krankenhäuser, indem sie einen ausreichenden Inflationsausgleich schafft und die vollständige Finanzierung der vereinbarten Tarifsteigerungen im Jahr 2024 gesetzlich möglich macht. Wir brauchen beides, wenn wir die Abwärtsspirale für die Krankenhäuser stoppen wollen.“ Unterstützt wird der Protest von der „NRW-Allianz für die Krankenhäuser“ aus in NRW arbeitenden Verbänden und Organisationen. Dahinter stehen die drei kommunalen Spitzenverbände Landkreistag, Städtetag sowie der Städte- und Gemeindebund, die Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe, die Pflegekammer NRW, die Gewerkschaften ver.di und Marburger Bund, die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe sowie die Caritas in NRW, der Verband leitender Krankenhausärztinnen und -ärzte, der Verband der Krankenhausdirektoren Deutschlands und der Verband der Privatkliniken NRW.
Konkrete Zahlen zeigen: Alle Krankenhäuser nehmen wirtschaftlich Schaden
„Diese breite Unterstützung zeigt, dass die Sorge um die wirtschaftliche Stabilität der Krankenhäuser nicht nur die Klinikträger selbst umtreibt“, erklärt KGNW-Präsident Morell bei der Vorstellung der NRW-Allianz für die Krankenhäuser. Vielmehr sei es ein reales Szenario, dass die stationäre Gesundheitsversorgung durch eine drohende Insolvenzwelle, auch durch eine wirtschaftliche Schieflage drastisch eingeschränkt werden müsste. Denn die Entwicklung treffe auch die Häuser, die bisher noch positive Ergebnisse vermelden konnten.
Dies kann die KGNW mit den konkreten Daten von Krankenhäusern unterfüttern. Die beiden folgenden Beispiele stehen „pars pro toto“ für die Lage der Krankenhäuser:
- Beispiel 1: Das Klinikum Lippe mit rund 1.200 Betten erwartet nach einem positiven Ergebnis von fast 2,3 Millionen Euro im vergangenen Jahr für 2023 nun ein Minus von 7,6 Millionen Euro. Im nächsten Jahr wird dieses ohne Handeln der Bundesregierung auf 15 Millionen Euro hochschnellen. So sind die Sachkosten seit 2022 um 13 Prozent oder 14,8 Millionen Euro gestiegen, 2024 werden es knapp 11 Millionen Euro (8 Prozent) sein. Der gesetzlich gedeckelte Anstieg der Vergütung beträgt aber nur 4,32 Prozent im laufenden Jahr. Der Anstieg der Personalkosten für 2024 – ohne die über das Pflegebudget abgedeckte Pflege am Bett – wird aktuell mit rund 5,6 Millionen Euro kalkuliert.
- Beispiel 2: Das St. Marien-Krankenhaus in Siegen mit rund 380 Betten musste bereits das Jahr 2022 mit fast 1,6 Millionen Euro Verlust abschließen und erwartet im laufenden Jahr ein Defizit von 1,8 Millionen Euro. Aber unter den absehbaren Bedingungen für 2024 wird der Verlust auf 6,7 Millionen Euro klettern – getrieben von steigenden Personalkosten von rund 4,4 Millionen Euro (plus 8 Prozent) sowie fast 4 Millionen Euro höherer Sachkosten (5 Prozent).
Für KGNW-Präsident Morell unterstreichen diese und weitere Beispiele, dass die Weigerung der Bundesregierung, die Betriebskosten der Krankenhäuser entsprechend ihrer gesetzlichen Pflicht abzusichern, die Krankenhäuser in wirtschaftliche Turbulenzen stürzen wird. „Die Folgen für die wohnortnahe Versorgung der Patientinnen und Patienten sind nicht absehbar. Aber jeder unkontrollierte Niedergang eines Krankenhauses wird unweigerlich nicht mehr zu schließende Lücken reißen“, mahnt Morell. Anders als normale Wirtschaftsunternehmen können die Krankenhäuser ihre Preise nicht selbst erhöhen.
Deshalb fordert die NRW-Allianz für die Krankenhäuser von der Bundesregierung eine dauerhafte Kompensation der Inflationskosten. Möglich wäre dies über eine mindestens 4-prozentige Anhebung des Landesbasisfallwertes ab 2024. Zudem müsse der Bund die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen, dass die Preisanpassung für das kommende Jahr nicht wie bisher gedeckelt bleibe, sondern dass die Krankenkassen die vollen Tariferhöhungen finanzieren können.
Landrat Müller: Kommunen fürchten neue Millionenlöcher
Die schlechte wirtschaftliche Lage vieler Krankenhäuser und die noch schlechtere Perspektive treibt auch Jürgen Müller um, Landrat des Kreises Herford und damit auch verantwortlich für die vom Kreis getragenen Kreiskliniken Herford-Bünde: „Wir haben in einem mühsamen Komplex unsere Kliniken nach einer teuren Sanierung ohne ausreichende finanzielle Unterstützung des Landes NRW seit 2010 durch positive Effekte einer Fusion wirtschaftlich und medizinisch zukunftsfähig aufgestellt. Dieser Prozess wird nun in Frage gestellt. Die weiter steigenden Inflationskosten und die absehbar große Deckungslücke bei der Tarifsteigerung im kommenden Jahr werden die Kliniken erneut erheblich belasten. Der Kreis Herford – und das gilt für viele NRW-Kommunen – kann nicht immer wieder neue Millionenlöcher stopfen.“ Gerade durch viele andere kommunale Aufgaben seien keinerlei Spielräume mehr vorhanden, hebt Müller hervor, der auch Vorsitzender des Gesundheitsschusses des Landkreistages NRW ist. Das müsse dem Bundesgesetzgeber, aber auch dem Landesgesetzgeber klar sein. Wenn Kommunen im schlimmsten Fall insolvente Krankenhäuser zwangsweise übernehmen müssten, seien sie in der aktuellen Lage hoffnungslos überfordert.
Ärztekammerpräsident Henke warnt vor weitreichenden Folgen
Zu dieser Situation dürfe es gar nicht erst kommen, warnt Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein: „Wenn Häuser ungeplant wegbrechen, dann ist das kein abstrakter Vorgang, den man mit Verweis auf genug weitere Krankenhäuser in der Region einfach hinnehmen kann. Denn neben der möglichen Verschlechterung der Versorgung stehen hinter jeder Insolvenz Beschäftigte, für die sich Lebenspläne ändern, sich Brüche in Aus- und Weiterbildung ergeben und die im schlimmsten Fall der medizinischen Versorgung dadurch langfristig nicht mehr zur Verfügung stehen. Angesichts eines schon jetzt akuten Fachkräftemangels im Gesundheitswesen darf das keiner wollen.“ Die NRW-Allianz für die Krankenhäuser wird zur Kundgebung am 20.September 2023 eine Erklärung veröffentlichen.
Hintergrundinformation
Preisentwicklung: Die Krankenhäuser können auf die enormen Preissteigerungen für Energie, Lebensmittel, Medizinprodukte oder auch Dienstleistungen nicht durch eine Anpassung der Vergütung reagieren. Für sie wird im Voraus eine erwartete Kostensteigerung festgelegt, die dann ein Jahr unveränderlich gilt. Für 2022 wurden 2,32 Prozent Kostensteigerung angenommen, die Inflation lag im Jahresdurchschnitt bei 6,9 Prozent. Allerdings lag im Bereich der Krankenhäuser, die energieintensive Unternehmen sind, die Kostensteigerung teils deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Das setzt sich auch 2023 fort: Immerhin 4,32 Prozent höhere Kosten können die Krankenhäuser geltend machen, die Inflation lag Anfang des Jahres mit 8,7 Prozent aber noch doppelt so hoch, im August lag sie bei 6,1 Prozent (Quelle: Destatis).
Die Pressemitteilung können Sie hier downloaden:
https://www.kgnw.de/presse/aktuelles/2023-09-11-pm-kgnw-daseinsvorsorge-auf-der-kippe-protestkundgebung-am-20-09-2023-1/2023-09-11-pm-kgnw-daseinsvorsorge-auf-der-kippe-protestkundgebung-am-20-09-2023